The Indian intersection
/by Georg Jahnsenpublished in January 2010 at www.urbanophil.com
Once again it happened, in one of these forgotten districts of Mumbai, on this one Sunday, at this one intersection, that everything just stopped. Cars, rickshaws, hand carts, cows, goats, various things lying around and a lot of people were suddenly wedged into each other without touching. Respectfully being locked together. People were gesticulating and making noise. This usually helps to get on in Mumbai. But not on this day and at this intersection. In the end everyone tried to gain the last few inches of space that were available. But this only made the whole situation trickier. The last possible gaps that could have been used as a way out, joined. A final general honking and shouting arose. And then there was silence.
Where two roads cross, humans meet. Communication and interaction take place. Consensus and compromise have to be found. The individual interacts with the community. A crossing is perhaps one of the best places to reveal the social context of a city. How do people cope with rules? How do they bring their own personal interests of advancement in line with the abstract interests of the community?
At this very second, each person understood that his own advancement was beyond his own power. Suddenly it was there, this sense of responsibility for the higher instance of the great knot of people and animals and sheet metal and garbage. The first looks detached from staring straight ahead, from the blunt view on one's own goals. Eyes explored the environment, the whole situation and the neighbor who was also trapped as oneself. And suddenly a miracle happened: Objects began to move backwards. Space was created. Previously hard-won space was returned to the intersection. The knot broke up slowly.
The way the Mumbaiker crosses an intersection can be matched to the way the constructed Mumbai works. The city as constructed behavior: space is radically occupied. Higher community interests are gladly ignored. And this is practiced by all social groups. While the multi-millionaire just ruined a historic residential district with a new giant high-rise concrete housing project, the masses of the poor occupy every square inch of free city space with its spontaneous architectures. Mutual respect, understanding and higher-level rules, which are based on the entire community either do not exist or they are constantly undermined by appropriate means of individual actors. What remains at this very intersection and at the whole city of Mumbai is the constant daily anarchic chaos that the people have to arrange with. And only now and then situations occur randomly in which a common sense can be achieved.
Artikel auf www.urbanophil.com
// Gastbeitrag von Georg Jahnsen aus Mumbai //
In einem der vergessenen Stadtviertel Mumbais, an diesem einen Sonntag, an dieser einen Kreuzung, passierte es mal wieder, dass nichts mehr ging. Autos, Rickshaws, Handkarren, Kühe, Ziegen, herumstehende und herumliegende Gegenstände und jede Menge Menschen waren plötzlich ineinander verkeilt ohne sich dabei zu berühren. Respektvolles ineinander verkeilt sein. Es wurde mit den Händen gefuchtelt und Lärm veranstaltet. Normalerweise hilft dies beim eigenen Vorankommen in Mumbai. Nicht so an diesem Tag und an dieser Kreuzung. Am Schluss versuchte jeder noch die letzten paar freien Zentimeter vor sich zu gewinnen. Doch dadurch wurde die Situation nur noch vertrackter. Die letzten möglichen Lücken, die noch als Auswege hätten benutzt werden können, schlossen sich. Ein letztes allgemeines Hupen und Rufen bäumte sich auf. Und dann wurde es still.
Wo zwei Wege sich kreuzen, begegnen sich Menschen. Kommunikation und Interaktion finden statt. Konsens und Kompromisse müssen gefunden werden. Das Individuum interagiert mit der Gemeinschaft. Eine Kreuzung gehört vielleicht zu den besten Orten, die gesellschaftliche Zusammenhänge preisgeben. Wie gehen die Menschen mit Regeln um? Wie bringen sie ihre eigenen Interessen des persönlichen Vorankommens mit den abstrakten Interessen der Allgemeinheit in Einklang?
Jeder Einzelne begriff in dieser Sekunde, dass sein eigenes Vorankommen außerhalb seiner eigenen Macht lag. Plötzlich war es da, dieses Verantwortungsgefühl für die übergeordnete Instanz des großen Knotens aus Menschen und Blech und Müll und Tieren. Die ersten Blicke lösten sich vom stieren Geradeaus, vom stumpfen aufs eigene Ziel gerichtet sein. Augen erkundeten die Umgebung, die ganze Situation und den Nachbarn, der ebenso eingeklemmt war wie man selber. Und plötzlich geschah das Wunder: Objekte begannen sich rückwärts zu bewegen. Platz entstand. Zuvor mühsam erkämpfter Raum wurde an die Kreuzung zurückgegeben. Der Knoten löste sich langsam auf.
Die Art, wie der Mumbaiker eine Kreuzung durchquert, lässt sich übertragen auf die Art wie das gebaute Mumbai funktioniert. Die Stadt als gebaute Umgangsform: Raum wird radikal angeeignet. Übergeordnete gemeinschaftliche Interessen werden gerne missachtet. Und dies wird von allen gesellschaftlichen Schichten so praktiziert. Während der Multimillionär mit einer neuen Hochhaus-Stahlbeton-Wohnanlage mal eben ein historisches Wohnviertel ruiniert, okkupieren die Massen der Ärmsten jeden Quadratmeter freien Stadtraum mit ihren Spontanarchitekturen. Gegenseitige Beachtung, Verständnis und übergeordnete Regeln, auf denen die gesamte Gemeinschaft fußen könnte, gibt es entweder nicht oder sie werden mit geeigneten Mitteln von einzelnen Akteuren stetig ausgehebelt.
So bleibt auf der Kreuzung wie in der gebauten Stadt die einzige Konstante das tägliche anarchische Chaos mit dem sich die Menschen arrangieren müssen. Und nur dann und wann beschert der Zufall Situationen in denen ein gemeinsames Ziel erreicht wird.