Urbane Mobilität als Zivilisationsschule


Die Existenz einer städtischen Bürgergesellschaft garantiert Mindeststandards eines friedlichen Zusammenlebens der Menschen in einer Stadt. Verschiedenste gesellschaftliche Parameter wiederum sind nötig, damit eine solche Bürgergesellschaft entstehen kann. In der Metropolregion La Paz / El Alto zeigen zwei ambitionierte Projekte, wie durch die Verbesserung der urbanen Mobilität das Entstehen einer Bürgergesellschaft gefördert wird.


Ein nicht integratives Mobilitätssystem
Bislang war die innerstädtische Mobilität im Grossraum La Paz - El Alto geprägt durch Minibusse, (Radio-)Taxis und Trufis. Das alles war und ist weitgehend privat organisiert und daher auch weitgehend chaotisch und für den Außenstehenden zunächst unverständlich und schwer nutzbar. Die Minibusse halten überall. Wer aussteigen will, muss laut "esquina!" (= da an der Ecke) rufen, und der Bus hält. Auf handgefertigten Schildern, die hinter das Armaturenbrett geklemmt werden, steht, wo der jeweilige Minibus hinfährt. Gerne werden diese Zielrichtungen auch laut aus dem Fenster ausgerufen. Die Busse sind so klein, dass es für Menschen mit körperlichen Einschränkungen (oder einer Grösse jenseits von 1,85m) entweder eine Qual oder komplett unmöglich ist, diese zu nutzen. Radiotaxis (Taxi, welches exklusiv für den Kunden an einen Ort fährt) und Trufis (Taxi con ruta fija = Taxi mit fester Route, Sammeltaxi) sind für die Bevölkerung relativ teuer und zudem in letzter Zeit wegen krimineller Übergriffe in Verruf geraten.

Mit diesem System hat sich die Bevölkerung irgendwie arrangiert. Aber im Kern grenzt es bestimmte Bevölkerungsgruppen aus, und es ist weitgehend unkomfortabel.


Teleférico: Eine spektakuläre Seilbahn als urbanes Alltagsverkehrsmittel
Seit etwa einem halben Jahr gibt es in der Metropolregion La Paz / El Alto drei Seilbahnlinien mit insgesamt 14 Stationen und knapp 10 km Gesamtlänge. Über steilste Abhänge, tiefe Täler und engste Bebauung hinweg ist das System innerhalb von nur zwei Jahren Bauzeit vom bolivianischen Staat finanziert, federführend von einer österreichischen Spezialfirma realisiert worden. Die Linien verbinden sowohl das höher gelegene El Alto mit La Paz, als auch die verschiedenen Stadtteile von La Paz untereinander. Mit dem angestrebten Bau weiterer Linien in den nächsten Jahren, soll so das weltweit größte urbane Seilbahnnetz entstehen.

Die Linien sind allesamt atemberaubend und spektakulär. Der Fahrgast kann aus den rundum verglasten Gondeln für je 8 Personen die gesamte Stadt La Paz überblicken. Zudem ist natürlich das mächtige Bergpanorama mit den schneebedeckten 6000er-Gipfeln der Cordillera Real stetig als Hintergrund und Rahmen present. Das Preissystem ist sehr einfach und konkurrenzlos günstig. Alle Fahrten kosten pro Linie drei Bolivianos (ca 30 Eurocent). Strikte Regeln bewahren das System vor dem Chaos. Große Gepäckstücke sind verboten - sonst würden vermutlich Hühner und Gasflaschen transportiert werden. Ordner in den Stationen achten auf die gute Auslastung der Gondeln und die achssymetrische Sitzposition der Fahrgäste, damit die Gondeln nicht schief am Seil hängen.

Dank bargeldloser "Mobilitätskarte", die sich an einem separaten Schalter mit Geld aufladen lässt, sind die Warteschlangen an der Teleférico überschaubar. Fast lautlos gleitet man also durch die grandiose Szenerie und auf Tuchfühlung mit den anderen Fahrgästen. Auf allen Fahrten, die wir bislang gemacht haben, war die jeweilige Stimmung in der Gondel sehr entspannt, friedlich und offen.


Der Puma kommt
"Ich komme mit dem Puma." Dieser Satz wird seit Mitte 2014 in La Paz von jedem verstanden. Gemeint ist damit, dass man mit dem neuen, öffentlichen, innerstädtischen Linienbussystem fahren wird. Klingt für eine Millionenstadt wie La Paz banal - es ist aber für die urbane Mobilität dieser Metropole ein Quantensprung.

Puma steht für Puma Katari, der Name der Busse. Die Stadt La Paz hat ein Liniennetz mit festen Haltestellen installiert. Die Straßen, auf denen die Routen liegen, wurden eigens neu ausgebaut und teilweise verbreitert. Und trotzdem ist es für den Bus und den Fahrer oder die Fahrerin an vielen Stellen eine Qual, die verwinkelten und extrem steilen Straßen zu durchfahren. Das Grafikdesign ist modern, verständlich und ansprechend. Die Busse sind geräumig, hell und behindertengerecht und mit drahtlosem Umsonstinternet ausgestattet. Die Fahrpreise sind simpel (es gibt nur einen Preis) und unschlagbar günstig (für 20 Eurocent ca. eine Stunde durch die ganze Stadt). In jedem Bus befinden sich zwei angestellte Personen: eine Person, die fährt, und eine weitere Person, die kassiert und kontrolliert. Letztere sitzt hinter dem Fahrer oder der Fahrerin und hat das Geschehen im Bus im Blick. Diese Person ist gerade jetzt in der Anfangsphase dieses neuen Systems sehr wichtig. Sie erklärt fast pausenlos die Regeln während der Fahrt in direkter Ansprache an die Fahrenden. Hier einige Kernsätze, die ich in den letzten Tagen aufgeschnappt habe:

- "Man kann nur an Haltestellen aussteigen - wir machen keine Ausnahmen."
- "Wer an der nächsten Haltestelle aussteigen möchte muss vorher den roten Knopf drücken."
- "Im Bus wird nicht gegessen - auch keine Lollies."
- "Es ist ein Prinzip, dass älteren Personen und Frauen mit kleinen Kindern Platz gegeben wird."

Es ist die deutlich ausgesprochene Vision der Macher dieses Systems, nicht nur die Mobilität in La Paz zu verbessern, sondern ebenso für das sichere und friedliche Zusammenleben der Menschen einzutreten. Die Angestellten sind geschult von einer Organisation, die für die Rehabilitation und Integration von Opfern von Gewalt in La Paz kämpft. Freundlichkeit, Respekt, die Wahrnehmung des Anderen und die besondere Beachtung von Schwächeren stehen im Mittelpunkt des Konzeptes im Umgang mit den Kunden.


Fazit: Zwei Mobilitätssysteme als Zivilisationsschule
Bus und Seilbahn sind beide so anspruchsvoll entworfen und gestaltet, dass sie zur Zivilisationsschule der Stadtbevölkerung werden. In einer Umgebung, in der sich die Bürger mit 3m hohen Mauern, die mit Glasscherben gespickt sind voneinander abschotten, scheint diese Schule des gegenseitigen Umgangs nötig zu sein. Und diese Schule funktioniert. Der Bürgergesellschaft tut es sichtlich gut, sich auf engstem Raum in direktem Körperkontakt zu begegnen. Man muss sich arrangieren, wenn es rumpelt. Augenkontakt wird gesucht - ein Lächeln wird gefunden. Jung und Alt, Arm und Reich, Männer und Frauen, kurzum alle Bevölkerungsgruppen nutzen inzwischen die Systeme. Ich sehe morgens den Anzugträger mit sorgfältig gegelten Haaren neben einer Kleinbäuerin in traditioneller Kleidung im Bus sitzen. Man nimmt sich wahr. Verständnis und Höflichkeit füreinander entstehen. Respekt ist da, ungeachtet von Status und Einkommen. Ich sitze zusammen in einer Teleférico Kabine mit vier jungen Mädchen aus El Alto. Sie fahren alleine mit der Seilbahn in ein Shoppingcenter nach La Paz. Sie tun dies entspannt, gefahrlos und voller Spaß.

Die Systeme werden (bislang) als gemeinschaftliches Eigentum respektiert und geachtet. Der Slogan "Mi Teleférico" (= meine Seilbahn) scheint zu funktionieren - Vandalismus und mutwillige Beschädigungen findet man weder im Puma noch in der Seilbahn. Ich nutze vor allem den Puma inzwischen sehr oft und die Seilbahn gelegentlich. Ich sehe sowohl an mir selber, als auch an den anderen NutzerInnen, dass die Vision der Macher dieser Systeme aufgeht. Die Menschen haben sichtlich Spaß an dieser Art der urbanen Fortbewegung. Es ist "cool" Puma oder Teleférico zu fahren, und es besteht ein sichtliches Bedürfnis danach, sich in eine Gemeinschaft von Menschen zu begeben, in der ein sicheres und friedliches Zusammenleben möglich ist.

Foto 1: Verkehr in El Alto
Foto 2: Mi Teleférico Station Línea Roja
Foto 3: Pumakatari
Foto 4: Mi Teleférico vor der Kulisse des Illimani